Prof.Dr. Hubertus Kohle: Das Brooklyn Museum in New York (Redemanuskript zum Vortrag)


Das Brooklyn Museum in New York. Digitale Präsenz als Weg aus der Krise?
I
(Folie 1) Das Ende des 19. Jahrhunderts gegründete Brooklyn Museum in New York sollte einmal zum größten Museum der Welt heranwachsen. Und auch wenn es dabei auf viertel Weg stehen geblieben ist: Das im Beaux-Arts-Stil realisierte Gebäude ist immer noch ein gewaltiger Trump. Er beherbergt eine im wahrsten Sinne des Wortes globale Kunstsammlung. Die altägyptische gilt als eine der bedeutendsten der Welt. Islamische Kunst wird gesammelt, pazifische, asiatische, afrikanische, alt- und neuamerikanische, und auch europäische. Hier haben die Ostküsten-Industriemagnaten dafür gesorgt, dass sich etwa das – nicht nur französische – 19. Jahrhundert mit Dutzenden von Hauptwerken präsentiert.
Neben dem Metropolitan Museum in Manhattan, Luftlinie nur knapp 15 Kilometer entfernt, tut sich das Museum allerdings ein wenig schwer. Nicht nur, weil dessen Sammlung dann doch noch um einiges exquisiter ist, sondern wohl auch, weil Brooklyn nicht so sehr im Fokus des touristischen Interesses steht. Liegen die jährlichen Besucherzahlen im Metropolitan bei über 4 Millionen (nach Einbrüchen im Gefolge des 11. September 2001), krebst das Brooklyn Museum bei weniger als 400.000 herum und die Zahlen befinden sich seit den 1990er Jahren auf einem zwar nicht kontinuierlichen, aber doch tendenziellen Rückzug.
Der die Geschicke des Museums seit 1996 leitende Direktor Arnold Lehmann versucht, das Museum neu zu positionieren, und man hat den Eindruck, dass er hier eine Strategie verfolgt, die derjenigen des Metropolitan geradezu entgegengesetzt ist. Angesichts einer Brooklyner Bevölkerung, die weniger Bildungsbürgertum-orientiert ist und vielfach aus Afro-Amerikanern und Hispanics besteht, aber auch, weil er grundsätzlich glaubt, dass die Institution nur überleben kann, wenn sie sich verändert, macht er ein anderes Programm: Experimentelle Ausstellungen, Street-Events, ziemlich schräge Sachen eben. Und er versucht auch, seine präsumptiven Besucher anders anzusprechen, als das im immer noch als Bildungstempel daher kommenden klassischen Museum der Fall ist. Es liegt auf der Hand, dass Lehman dafür zuweilen hart angegangen wird. Die durch und durch bürgerliche Institution Museum auf andere als bürgerliche Grundlagen zu stellen, bringt Ärger.
(folie xx) Ein Teil dieser veränderten Strategie spiegelt sich auch in der WWW-Präsenz des Museums, die nach meinem Dafürhalten als eine der nicht nur umfangreichsten, sondern auch phantasievollsten, diversifiziertesten und medienadäquatesten weltweit gelten kann. Zuletzt ist es in dieser Eigenschaft sogar von Spiegel online hervorgehoben worden.[1] Insbesondere die Nutzerbeteiligung, die man unter dem Begriff Web 2 anspricht, dürfte vorbildlos sein. Ich werde in den folgenden 25 Minuten die Elemente dieser WWW-Präsenz diskutieren und anschließend danach fragen, ob sie auch für europäische/ deutsche Museen anregend sein kann. Stichwortartig werde ich in folgende Abschnitte einteilen: Transparenz – Besucherbeteiligung
II
(Folie) Also zuerst zur Transparenz. Unter Transparenz verstehe ich unter anderem, dass die Schätze der Institution nicht nur in dieser selber, sondern auch medial vermittel und heutzutage natürlich insbesondere auch im Internet zu sehen sind. Das Brooklyn Museum bietet an die 100.000 Objekte in digitaler Reproduktion, das ist längst nicht alles, was das Museum besitzt, aber doch ein guter Teil. Dabei sind die Digitalisate in mittlerer Auflösung vorhanden, noch größere, also druckfähige, werden gegen Bezahlung abgegeben. Das Handling ist vorbildlich und durchschaubar. Ein Download in unterschiedlichen Versionen wird vorgeschlagen, darunter sogar ein HTML-Code, mit dem man die Reproduktion adäquat annotiert in eine Web-Seite einbinden kann. Bildinformationen werden angegeben, darunter auch die Tatsache, ob sich das Werk in der Ausstellung befindet, darüber hinaus lässt sich das Bild digital kommentieren, weiterleiten, in Listen einbinden etc. pp. (Folie) Transparenz-Schaffung dürfte man auch in solchen scheinbaren Nebensächlichkeiten erkennen können, die selbstkritisch auf den Vollständigkeitsgrad der angegebenen Informationen verweisen und auf die Tatsache, dass die Informationen permanent ergänzt und erweitert werden. Auf diesen Punkt komme ich nachher im Zusammenhang mit allgemeinen Überlegungen zu denkbaren musealen Internet-Strategien noch einmal zurück. Dabei fällt hier wie an vielen anderen Stellen auf, dass immer wieder der Nutzer und die Nutzerin eingebunden werden: “Records are frequently reviewed and revised, and we welcome any additional information you might have.” Die “additonal information” kann über einen link auf “we welcome” direkt an das Büro des chief curators gesandt werden. Es ist nicht nötig, sich durch eine versteckte (oder überhaupt nicht vorhandene) Mitarbeiterliste durchzuhangeln – um es dann im Zweifel lieber ganz sein zu lassen.
(Folie) Transparenz ist aber auch, dass das Museum eine denkbar offene Informationspolitik betreibt. Man kann ihm auf Twitter folgen, findet eine umfangreiche Präsenz auf flickr, kann Filme rund um die Museums-Aktivitäten auf youtube ansehen usw. (Folie) Allgemein fällt auf, dass das Museum in seiner Web-Präsenz keine Barrieren aufbaut und offenbar auch keine Probleme hat, den noblen Anspruch des Bildungs-Tempels durch Darbietungen zu konterkarieren, die bis an die Grenze der Albernheit gehen können.
III
Jetzt zur Besucherbeteiligung. Dass das WWW ein Medium mit Hin- und Rückkanal ist, dass es interaktiv zu nutzen ist und damit Anlass gibt, von der Demokratisierung der Medien zu träumen, weiß man nicht erst, seitdem verstärkt vom Web 2.0 die Rede ist. In den Bibliotheken hat die Nutzerbeteiligung schon Einzug gehalten, z.B. dort, wo Leser/in eigene Schlagworte für Bücher vergeben darf, nach denen dann andere suchen können. Museen tun sich da schwerer, die Gründe dafür kann sich jeder selber ausrechnen. Ich vermute, es hängt mit der Aura des Originals zusammen, die man nicht zerstören will, und die bei einem Buch bescheidener ist, schon alleine, weil das Buch Produkt eines Reproduktionsprozesses ist. Auch hier kann das Brooklyn Museum zum Vorbild werden, zumindestens insofern, als es Ideen liefert. Auf eine besonders avancierte Form der Nutzerbeteiligung bin ich durch Zufall bei der Suche nach universitären Bildungsprodukten für mein Ipad gestoßen. (folie) Angeboten wurde eine im Jahr 2008 am Brooklyn Museum ausgerichtete Podiumsdiskussion zur Ausstellung “Click”, bei der die Besucher selber zu Gestaltern der Ausstellung geworden waren. Anwesend bei der Podiumsdiskussion war unter anderem auch James Surowiecki, der mit seinem berühmt gewordenen Buch über die “Wisdom of Crowds” gleichsam die ideologische Rechtfertigung für solche futuristischen Vorhaben geliefert hat. Was hat es mit der Ausstellung auf sich?
(Folie) In einem ersten Durchgang wurden Künstler eingeladen, eine digitale Photographie einzuliefern, die dem Motto “Changing Faces of Brooklyn” entsprach. Danach stellten die Museumsleute die eingelieferten Werke in einem öffentlichen Forum zur Diskussion. Die Produzenten der Arbeiten blieben anonym, die Diskutanden forderte man auf, neben ihrer Bewertung einige Fragen zur ihrer allgemeinen Kunstkenntnis zu beantworten. In einem letzten Schritt wurden die Fotos ausgestellt, und zwar so, dass ihre Anordnung auf die öffentliche Evaluation reagierte. So konnte man z.B. sehen, in welcher Korrelation die Arbeiten in ihrer Bewertung zu “Qualifikationen” der Bewerter stand. Letzteres zeigt vielleicht eine gewisse Zurückhaltung gegenüber der Radikalität des Ansatzes an, da die Demokratisierung, welche in der Grundidee angelegt ist, durch einen Bildungsfilter wieder eingeschränkt wird. (Folie) Aber es ist in der Tat interessant zu sehen, was für Bilder die künstlerisch hoch Gebildeten qualitativ oben ranken, weil diese mit Blick auf ästhetische Komplexität und Anlehnung an klassische Avantgardemuster in der Tat herausragen.
Peter Weibel hat vor kurzem einen Aufsatz zur zuschauergenerierten Ausstellung im Web 2.0 geschrieben, ein Aufsatz, der – wie bei Weibel üblich - sehr radikal daher kam und im Web 2.0 eine Möglichkeit erblickte, die von dem Künstler offenbar wenig geliebte bürgerliche Unterdrückungsinstitution Museum endgültig über den Haufen zu werfen. Selbst wenn wir das weniger radikal sehen: Ich könnte mir vorstellen, dass das Modell nachahmenswert ist. Oder dass man dies zumindestens einmal versuchen sollte. Vielleicht gar nicht mal als eine vollständig vom Publikum gesteuerte Veranstaltung, aber doch insofern man diese Beteiligung als ein Element in ein umfassenderes Konzept integrieren könnte. Ein ganz konkretes Beispiel ist mir eingefallen, als die Alte Pinakothek letztes Jahr Rubens und seine Vorbilder ausstellte. Hier wäre es durchaus möglich gewesen, in einer online-Parallel-Ausstellung das Publikum einzuladen, selber Kunstwerke zu identifizieren und im System hochzuladen, von deren Anregungsfunktion für Rubens es überzeugt war. Technisch ist das alles inzwischen nicht mehr schwierig, wichtig ist der Wille, so etwas überhaupt in Betracht zu ziehen.
Das soeben relativ ausführlich vorgestellte Ausstellungsprojekt des Brooklyn Museums ist aber nur die Spitze eines Eisberges der Nutzerbeteiligung, wenn auch die zweifellos konsequenteste, die traditionelle Ausstellungsphilosophie am entschiedensten in Frage stellende oder doch zumindestens ergänzende. Neben den vielen Orten, an denen das New Yorker Museum die Besucher zur Beteiligung auffordert, sei hier nur noch auf das social tagging-Projekt verwiesen, das unter dem Namen “gallery tag” firmiert. Besucher können hier online Kunstwerke annotieren, andere nach diesen Annotationen suchen lassen und sie werden für ihr Engagement belohnt, wobei beide Aktivitäten, das taggen und das belohnt werden, ganz ohne Zweifel geeignet sind, die Publikumsbindung zu steigern. Ich habe schon an anderer Stelle beschrieben, was für geradezu grenzenlose Möglichkeiten der Bildung einer corporate identity sich hier offenbaren. Beispiel: Der aktivste Tagger wird einmal im Jahr vom Museumsdirektor zum Essen eingeladen. Oder wenn der dazu keine Lust hat: 1 Jahr freier Eintritt. Entscheidend scheint mir auch hier wieder die Tatsache, dass eine solche Aktivität an vielen Stellen ein grundsätzliches Umdenken der Anbieter voraussetzt: Nicht mehr der würdevolle Verwalter eines heiligen Kulturgrals ist hier gefordert, sondern jemand, der davon überzeugt ist, dass auch die Kunst ihre Bedeutung in der Demokratie nur aus ihrer grundsätzlichen Erreichbarkeit für alle bezieht. Das schließt im übrigen gar nicht aus, dass man mit Kunst Werte von hohem Anspruch und großer Tiefe verbindet. Aber es setzt voraus, dass man sich an Besucher gewöhnt, die mit ihrem Smartphone durch die Säle wandern und Bilder aufsuchen, die bei gallery tag z.B. mit dem Stichwort “erhaben” getaggt worden waren. Wenn ein Museumsleiter das für allzu eventig hält, dann muss er konsequenterweise auch darauf verzichten, an solchen zweifelhaften Unternehmungen wie der “Nacht der Museen” teilzunehmen.
(Folie) Hinter Angeboten wie den beschriebenen stecken im übrigen immer interessierte Individuen, die eine Sache voranbringen und die Unterstützung des Leiters haben. Im Fall des Brooklyn Museums ist es Shelley Bernstein, Manager of Information Systems des Museums, der ich hiermit meine ganz ausdrückliche Reverenz erweise. Ich denke, man sieht dem Bild schon auf den ersten Blick an, wie hier in persönlichem Phänotyp und Habitus ein Typus gestaltet wird, der mit dem klassischen Museums-Kustos nicht mehr viel zu tun hat.
IV
Nach diesem kursorischen Überblick über ein einzelnes, aber in seiner Internet-Präsenz äußerst umfangreich und progressiv ausgebautes Museum sollen nun ein paar allgemeinere Reflexionen folgen, die zum Teil bewusst polemisch gefasst sind und damit zur Diskussion anreizen sollen. Ich könnte jetzt damit anfangen, defensiv zu formulieren, dass Amerika eben nicht Europa ist und dass entsprechend nicht alles so mir nichts dir nichts übertragen werden sollte. Das tue ich nicht, denn es würde einen Unterschied betonen, der so groß gar nicht ist, wie er in dieser rhetorischen Strategie erscheint. Fangen wir mal mit der Transparenz an.
Im Vergleich zum Brooklyn Museum ist das deutsche und europäische Angebot von musealen Reprodukionen nach Kunstwerken im Netz ausgesprochen bescheiden, ja mickrig zu nennen. Und wenn man hier schon früh mehr geboten hat, dann meist in Ländern, die immer schon eher reformfreudig gewesen sind. Ich nenne nur das Amsterdamer Rijksmuseum und die Londoner Tate Gallery. Irgendwie herrscht in den meisten Fällen mehr oder weniger explizit noch immer die Meinung vor, der Besucher müsse sich schon ins Museum bemühen, wenn er oder sie der Werke ansichtig werden wolle. Ob das vor kurzem gestartete google-arts-projekt hier einen grundsätzlichen Umschwung bringt, bleibt abzuwarten. Dabei ist diese scheinbare Hochnäsigkeit auch oder sogar im wesentlichen Ausdruck von Angst. Denn wird dieser Besucher überhaupt noch kommen, wenn er alles digital reproduziert auf dem Bildschirm findet?
Mir scheinen hier falsche Voraussetzungen vorzuliegen, und zwar in mehrfacher Hinsicht, in positiver wie in negativer. Erstens denke ich, dass eine aus Steuermitteln finanzierte Institution die Pflicht hat, ihre Leistungen einem möglichst breiten, eben dem zahlenden Publikum zur Verfügung zu stellen. Das gilt naturgemäß in einem weniger aus privaten denn aus öffentlichen Mitteln finanzierten System wie dem deutschen um so mehr. Dies nur noch mal als Mahnung für diejenigen, die eine Anregungsfunktion des Brooklyner Museum grundsätzlich ablehnen. In der Zeit, als Bücher das Mittel der Wahl waren, eine Wirkung über die Grenzen des Museums hinaus auf die Öffentlichkeit zu erzielen, war es klar und selbstverständlich, dass sich dieses Museum des Buches – als Katalog, Führer, historische Darstellung etc. – bediente, um seinen Erziehungsauftrag zu realisieren. Jetzt ist es neben der Druckschrift das Internet. Was liegt da näher, als dieses Medium offensiv anzugehen? Und sei es auch, um die im bürgerlichen Kulturleben unvermeidbare Asymmetrie, die in hohem finanziellen Aufwand für ein sehr begrenztes Publikum besteht, wenigstens abzuschwächen.
Zweitens aber gibt es neben der Pflicht – und vielleicht noch wichtiger – auch den Gewinn. Dieser Gewinn besteht in der Sichtbarkeit, die heute immer wichtiger wird, um die Existenz einer öffentlichen Institution zu begründen, welche ihre raison d'être nicht im monetären Verdienst erblicken kann. Das gilt übrigens auch für den universitären Bereich: Sie können heutzutage noch so viele intelligente Forschungen betreiben, wenn sie nicht gleichzeitig die Trommel rühren, bleiben diese meist unbemerkt – ich bin mir darüber im klaren, dass damit eine Typus des Selbstanpreisers gefördert wird, der durchaus unangenehm auffallen kann. Und diese Sichtbarkeit, die wiederum nachweisbare Auswirkungen auf Bekanntheit und damit – im Falle des Museums - Besucherfrequenz hat, wird in Zukunft immer mehr über den tendenziell monopolistischen Internet-Kanal garantiert. Ich erinnere an eine zuletzt vom SPIEGEL in Auftrag gegebenen Studie zu Denk- und Lebensweisen junger Erwachsener und deren Mediengebrauch: Ein Drittel aller Befragten erkundigt sich in google nach den Eigenheiten eines Menschen, den es kurz zuvor kennen gelernt hat. Mehr als die Hälfte versucht herauszubekommen, ob sein Partner fremdgeht, indem es deren SMS und emails liest. Und ebenfalls weit mehr als die Hälfte ist in einem der sozialen Netzwerke eingetragen, die unter dem Namen Facebook, StudiVZ o.Ä bekannt sind.[2] Das Fernsehen ist in der Beliebtheitsskala übrigens vom Internet längst abgelöst.
Nun ist es ja nicht so, dass an der hier thematischen Front im Museum zur Zeit nicht einiges passieren würde. Ausstellungen werden digital begleitet, Sammlungsbestände oder Teile davon werden in wie auch immer gearteten Datenbanken aufbereitet, die man dann teilweise auch über das World Wide Web an die Öffentlichkeit weiterleitet. Aufgrund der z.B. administrativen Belastung des Museumspersonals läuft das meistens über zeitlich befristet eingestellte Projektmitarbeiter. Die Finanzierung übernehmen Drittmittelgeber, in erster Linie die Deutsche Forschungsgemeinschaft, aber auch solche Organisationen wie die VW-Stiftung, Thyssen, oder Gabriele Henkel. So weit, so gut. Allerdings ist das doch ein mühsamer Weg, und noch dazu einer, der selbst auf lange Sicht nur einen verschwindend kleinen Bestand greifbar macht. Wenn solche Aktivitäten meistens nur noch von externen Mitarbeitern übernommen werden, dann sicherlich in erster Linie, weil der feste Staff anderweitig überlastet ist. Aber der Sachverhalt zeigt auch an, wie unwichtig in der Hierarchie der musealen Dienstleistungen solche Tätigkeiten offenbar sind. Mir scheint, dass hier ein Umdenkungsprozess eingeleitet werden muss, der in erster Linie von den jeweiligen Leitungen auszugehen hat. Ich erinnere mich, dass diese Forderung mit Blick auf den insgesamt mangelhaften Inventarisierungsstand der Museen schon seit Jahrzehnten gestellt wird, vielleicht bekommt sie unter den neuen medialen Bedingungen neuen Schub. Denn die für die Öffentlichkeit scheinbar unbedeutende Inventarisierungsarbeit gewinnt über die mit ihr verbundene online-Präsenz eine bisher ganz unvermutete Bedeutung.
Ein Umdenkungsprozess aber muss auch an anderer Stelle einsetzen, und das scheint mir noch wichtiger. Sie erinnern sich an meinen Hinweis auf die im Brooklyn Museum registrierte Tatsache, dass der Bearbeitungs- bzw. Vollständigkeitsstand einzelner Kunstwerk-Datensätze in eben diesen mit angegeben war. Hinter dieser scheinbar trivialen Eigenheit, die ich sonst an kaum irgendeiner anderen Stelle beobachtet habe, verbirgt sich eine Revolution: Offenbar ist man in Brooklyn bereit, etwas nach außen zu geben, das noch nicht vollständig erschlossen und bearbeitet ist. Und das auch noch offen zu sagen. Denn die schildkrötenartige Langsamkeit, mit der in deutschen und europäischen Museen die Bestände online zugänglich gemacht werden, hängt in erster Linie mit dem Perfektionsanspruch zusammen, der an die Erschließung gestellt wird. Erst wenn auch ja keine Fragen mehr unbeantwortet bleiben, darf man daran denken, an die Öffentlichkeit heranzutreten. Erst wenn auch der kleinste Verdacht auf Fehlerhaftigkeit ausgeräumt ist, legt man den Schalter von interner auf öffentliche Sichtbarkeit um. Warum eigentlich? Warum bindet man – wie in Brooklyn – nicht auch die Nutzer mit ihren Kompetenzen ein? Warum sieht man nicht ein, dass ein existierender unvollständiger oder sogar fehlerhafter Datensatz eventuell mehr Wert ist als ein vollständiger und richtiger (wenn man das überhaupt garantieren kann), der erst in 20 Jahren zu sehen ist? Unter der Voraussetzung natürlich, dass – wie in Brooklyn – auf eventuelle Unzulänglichkeiten hingewiesen wird, die man dann im Laufe der Zeit korrigiert. Weil man die Kontrolle nicht verlieren will? Weil man den Nutzer grundsätzlich für unzureichend qualifiziert hält, mit den Reproduktionen der Werke etwas Sinnvolles anzufangen? Das scheint mir nach allen meine Erfahrungen gar nicht mal so falsch, allerdings dem Medium Internet völlig unangemessen. Oder weil man eigentlich doch weiterhin der gatekeeper bleiben möchte, an dem niemand vorbei darf? Ich würde den Teufel tun, das hier einfach so zu behaupten, so dass ich es dabei bewenden lasse, auf die Legitimität dieser Vermutung zumindestens hinzuweisen.
Der erwähnte Kontrollwahn ist natürlich nicht nur in Museen zu beobachten. Ein Blick auf die Akademien, Forschungsinstitute und Universitäten zeigt änhliche Phänomene. Lieber 10 Jahre für einen Band Briefe eines berühmten Philosophen verwenden und jeden Original-Satz mit 5 Kommentarsätzen versehen, als irgendetwas unkommentiert herauslassen. Bei wohlgemerkt geplanten 15 Bänden insgesamt. Lieber auch noch den kleinsten Lexikonartikel auf 50 Seiten aufblasen und dann nach einem knappen Jahrhundert immer noch am Ende des ersten Drittels des Alphabetes herumkreuchen, als irgendwie fertig zu werden. Und das in dem nicht erst auf den zweiten Blick völlig irrwitzigen Glauben, man müsse auch noch für kommende Generationen Arbeitsmöglichkeiten sichern. Um so mehr, als doch kein Mensch 50 Seiten lesen will, wenn er oder sie einfach nur einen Lexikonartikel und kein ganzes Buch zu Raten ziehen möchte. Für meinen eigenen Bereich, die Universität, würde ich mir etwas anderes wünschen: Ich lege einen ganzen Archivbestand, etwa den Nachlass eines wichtigen Autors, Blatt für Blatt auf den Scanner und setze ihn schlicht und ergreifend ins Internet. Die Interessierten werden froh sein, dass sie auf das Material zugreifen können. Und sie werden nicht bedauern, dass dieses Material sozusagen nackt dasteht.
Meine Damen und Herren, mir scheint, am Schluss muss noch einmal etwas Grundsätzliches erwähnt werden, was in den bisherigen Detailsbeschreibungen vielleicht noch nicht mit hinreichender Deutlichkeit kommuniziert wurde: Es geht mir hier nicht um eine Ablösung des Museums durch die Reproduktion im Internet. Das Gegenteil ist der Fall. Ich stelle mir die Frage: Wie kann man in einer Zeit, in der die elektronischen Medien das soziale Leben immer stärker zu durchdringen beginnen, mit eben diesen elektronischen Medien dafür sorgen, dass das Original weiterhin registriert wird, dass die Leute ins Museum gehen? Fahrlässig wäre es, die beiden Bereiche einfach voneinander abzukoppeln, weil dann das Museum immer mehr verblassen und sklerotisieren würde. Man sollte sich da nicht von den hohen Besucherzahlen bei Sonderausstellungen und spätabendlichen Events täuschen lassen. Und man sollte auch nicht in die Richtung der Synergie zwischen den beiden Medien schreiten, nur weil es eben irgendwie gewünscht wird. Man sollte es mit Begeisterung tun und mit der Überzeugung, dass das Museum auch in Zukunft noch ein Ort des ästhetischen Genusses und der Bildung sein wird.


[1]    http://www.spiegel.de/netzwelt/web/0,1518,742974,00.html
[2]    DER SPIEGEL, no. 25, 15.6.09, S. 62f.